China kann auf eine jahrtausendealte Tradition der Heilkunde zurückblicken. Welche Rolle spielt die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) dort noch in der heutigen Zeit?
Li Wu: Die TCM gibt es schon seit rund 4.000 Jahren, sie ist eine Erfahrungsmedizin. Es gibt fünf Säulen in der TCM, eine davon ist die Kräuterheilkunde. Viele Erkenntnisse dieser Lehre stammen aus der Zeit um ca. 3000 v. Chr., weitere haben sich in Sun Simiao (7. Jahrhundert) und Li Shizhen (16. Jahrhundert) entwickelt. Unsere Ahnen haben sich einerseits große Mühe gegeben, die Erfahrungen aus dem Volk zu sammeln. Andererseits hat sich die Kräuterheilkunde im Kaiserpalast und durch dessen medizinische „Politik“ weiterentwickelt.
Seit 1949, also seit der Nachkriegszeit, wird die Traditionelle Chinesische Medizin von der Regierung gefördert. Dadurch wird die Tradition erhalten, außerdem ist diese Medizin sehr wirkungsvoll, praktisch und günstig. Heutzutage finden sich in den meisten chinesischen Kliniken sowohl eine schulmedizinische als auch eine TCM-Abteilung. Man kann feststellen: Die Zusammenarbeit und gegenseitige Ergänzung beider Richtungen ist der goldene Weg für die Gesundheit des Patienten.
Auch in Europa gibt es eine sehr weit zurückreichende Kultur der Heilkräutermedizin, die sich nie vollständig von der Schulmedizin verdrängen ließ. Worin sehen Sie den Grund für den derzeitigen Boom der Naturheilkunde?
J. Klitzner: Das aktuelle Interesse der Bevölkerung ist nicht neu – man kann durchaus sagen, dass mit Beginn der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine sichtbare Hinwendung zu natürlichen Heilweisen zu verzeichnen ist. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Erstens machte sich ein langsamer Wertewandel bemerkbar – weg von einer stereotypen, rein funktionalen, mechanistischen Denkweise, hin zu einer ganzheitlichen Anschauung und Behandlung. Man begann sich für die Wirklichkeit des natürlichen Prozesses zu interessieren: In diesem ist der lebende Organismus bei Mensch und Tier kein „organischer Ersatzteilbetrieb“ – schließlich sind alle Organe untrennbar im Kreislauf des Lebens miteinander verbunden und können nicht auseinanderdividiert werden. Zweitens machte die Schulmedizin immer häufiger negative Schlagzeilen, in deren Folge festzustellen war, dass sich die öffentlichen Medien mehr und mehr gesundheitlichen Themen öffneten. Sie begannen, über Naturheilkunde und naturheilkundliche Therapieerfolge zu berichten, kreierten neue Printperiodika, die diese Erfahrungen und Berichte transportierten, und erreichten damit eine zunehmende Leserschaft. Und im Bereich der Ratgeberbücher ist nach wie vor eine zunehmende Zahl an Neuerscheinungen über natürliche Heilmethoden zu erkennen. Wie bereits der große französische Dichter Victor Hugo (1802 – 1885) vor über hundert Jahren formulierte: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“
Aufgrund zahlreicher Parallelen im Menschenbild der TCM und der ganzheitlichen Kräuterheilkunde liegt eine Verbindung beider Traditionen nahe. Was hat Sie zu diesem gemeinsamen Projekt motiviert?
Li Wu: Im Zentrum stehen hier Gesundheit und Heilung, und zwar mit Naturheilkunde. Sowohl im Osten als auch im Westen haben die Menschen das Bedürfnis, die Heilkraft der Natur zu nutzen, ganz nach dem Motto „close to nature“. Die chinesische Heilkräuterlehre ist systematisch ihrer jahrtausendelangen Tradition gefolgt. Und auch die europäische Kräuterheilkunde hat eine lange Geschichte. Zwar ist immer wieder Wissen in den unterschiedlichen Kriegen verlorengegangen, dennoch sind die Substanz und die Essenz nach wie vor sehr wertvoll.
Um die Synergieeffekte beider Kräuterwelten zu erforschen und zu nutzen, habe ich mit Herrn Klitzner viele Jahre lang experimentiert und probiert. Endlich können wir nun nach bestem Wissen über dreihundert Teerezepturen, darunter mehr als hundert Euro-Asia-Rezepturen, in unserem Buch präsentieren.
Wo liegen die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der chinesischen und der europäischen Heilkultur? Gibt es hier auch Aspekte, die einer „Synergie zwischen Ost und West“ entgegenstehen?
Li Wu: Es gibt einige Unterschiede zwischen den beiden Heiltraditionen. Wie gesagt, wurde die chinesische Kräuterheilkunde im Laufe von Jahrtausenden systematisch erprobt und weiterentwickelt. Der Hintergrund ist die Theorie von Yin und Yang sowie die Fünf–Elemente-Analyse als Basis.
Europäisches Heilkräuterwissen stammt zum großen Teil aus dem Volk. Die Patientendiagnose wird auf Basis der Beziehungen zwischen Mensch und Natur gestellt.
Da sich beide Medizinformen auf die Natur fokussieren, gibt es, denke ich, mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze. Was interessant ist: Die gleichen Kräuter können unterschiedliche Wirkungen haben, je nachdem, ob sie in Europa oder in Asien wachsen. Zum Beispiel Weißdorn: Wächst er in Europa, benutzt man ihn für Herzerkrankungen. Wächst er in Asien, setzt man ihn zur Stärkung der Verdauung ein. Oder Süßholz: Wächst es in Europa, dient es als Heilmittel für die Magenschleimhaut; stammt es aus Asien, wirkt es wohltuend für die Atemwege. Die unterschiedliche Wirkung hängt oft mit Klima und Bodensubstanz zusammen.
Bei der Entwicklung der Rezepturen haben Sie festgestellt, dass sich die Wirkungen der chinesischen und der europäischen Heilkräuter nicht nur ergänzen, sondern auch verstärken können. Kann man dies an konkreten Beispielen näher erläutern?
J. Klitzner: Große traditionelle Heilkulturen bedienen sich seit Tausenden von Jahren dieses Prinzips der natürlichen Wirkungsverstärkung, oder anders gesagt: „Das Ganze ist mehr als die Summe aller Einzelteile.“ Diese geniale Fähigkeit der Natur, ohne zusätzlichen Aufwand oft erstaunliche Ergebnisse zu erzielen, funktioniert nach einem physikalischen Prinzip, der sogenannten „konstruktiven Interferenz“. Professor Fritz Albert Popp hat 1975 herausgefunden, dass in jeder lebenden Zelle Lichtwellen – „Bio-Photonen“ – nachweisbar sind. Das sind genau jene Wellen, die die Traditionelle Chinesische Medizin als die alle Lebensvorgänge steuernde Lebensenergie Qi ansieht.
Zu den gewünschten Synergieeffekten kommt es in einem Geschehen, das Physiker als „Phase“ bezeichnen: Zwei Wellen kommen in Phase, wenn sie beide zur gleichen Zeit ihren Gipfel oder ihr Tal erreichen, auch bei unterschiedlichen Frequenzen und Amplituden. In Phase zu kommen, bedeutet Synchronisierung. Wenn sich zwei Wellen in Phase befinden und sich gegenseitig überlappen – das ist die erwähnte konstruktive Interferenz –, dann ist die kombinierte Amplitude der beiden größer als jede einzelne, mit der Folge, dass das Signal verstärkt wird.
Diese Tatsache kann der Therapeut oft nutzen: Eine fieberhafte Erkältung wird beispielsweise rasch mit Lindenblüten und gleichzeitiger Gabe von Radix Isatidis – auf Chinesisch „Ban Lan Gen“, zu Deutsch Färberwaidwurzel – gebessert werden können.
Dank des Erfolgs alternativer Heilmethoden ist der Bedarf an natürlichen Heilmitteln und Heilkräutern sehr groß. Wo findet man in der modernen Welt überhaupt noch genügend wirksame Heilpflanzen und welchen Bezugsquellen darf man vertrauen?
J. Klitzner: Zu diesem Thema ist eindeutig festzustellen, dass mit den Ressourcen der Natur seitens der Kräuter verarbeitenden Betriebe inzwischen sehr verantwortungsvoll umgegangen wird. Größere Unternehmen betreiben eigene Kräuterplantagen, die nach den strengen Regeln der Nachhaltigkeit geführt werden. Hier arbeiten weltweit anerkannte Fachleute, um diese Gesetzmäßigkeiten einzuhalten. Insofern ist einem Raubbau an wildwachsenden Heilkräutern Einhalt geboten – bei gleichzeitiger Qualitätssicherung der verwendeten Kräuter.
Die Zubereitung als Tee spielt eine besondere Rolle für die wirksame Anwendung von Heilpflanzen. Worin besteht das „Geheimnis“ der Heiltees und wie unterscheiden sich die chinesische und die europäische Teekultur?
Li Wu: Die Zubereitung der Tees bzw. Kräuter hat entscheidende Auswirkungen auf die Heilkraft. Wenn man die Kräuter einzeln analysiert, entdeckt man unterschiedliche chemische Substanzen in den Pflanzen. Das Kochen verschiedener Kräuter bedeutet eine chemische Vermischung mit Flüssigkeit unter einer bestimmten Temperatur. Durch diese Vermischung kommt es zur wirkungsvollen Substanz; diese kann der Mensch besser aufnehmen, weil sie nicht synthetisch hergestellt wurde, sondern aus pflanzlichem Gewebe stammt und deshalb für den Körper wesentlich besser zu absorbieren ist.
Die „tea-time“ ist sehr verbreitet in der europäischen Tee- und Kräuterkultur und gilt als gesundheitsfördernd und genussreich. Chinesischer Tee dagegen ist zwar bekannt für seine Heilkraft, sein Geschmack wird aber manchmal auch als „ekelhaft“ bezeichnet. Ein bekanntes chinesisches Sprichwort heißt: „Gute Medizin schmeckt bitter.“ Hier sieht man: Das edle Ziel der chinesischen Kräuterkultur ist die Heilwirkung.
Bei welchen Beschwerden eignen sich die Heiltees am besten für die Behandlung, bei welchen Symptomen sollte man von dieser alternativen Methode besser absehen?
Li Wu: Generell gesehen haben Heiltees gute Heilchancen bei chronischen Erkrankungen. Diese Feststellung bezieht sich nicht nur auf physische, sondern auch auf psychische Erkrankungen. Bei akuten Erkrankungen allerdings, insbesondere bei Infektionskrankheiten, sollte der Patient so schnell wie möglich seinen Hausarzt konsultieren.
Soeben ist Ihr Buch in der dritten Auflage erschienen, die um die beiden Kapitel „Heiltees für Jugendliche“ und „Heiltees im Alter“ erweitert wurde. Für welche Beschwerden sind Heiltees in diesen Lebensphasen besonders geeignet? Und welches Gesamtresümee ziehen Sie nach drei Auflagen Ihres gemeinsamen Ratgebers?
J. Klitzner: Die hormonellen Umstellungen in der Pubertät, also etwa im Alter zwischen 13 und 17 Jahren, können zu diversen körperlichen Beschwerden und auch psychischen Symptomen führen, etwa Reizbarkeit und Aggression. Hier wirken die Heiltees ausgleichend und harmonisierend. Ähnlich ist es im Alter, wo wir mit diversen Veränderungen klarkommen müssen – Konzentration und Gedächtnis lassen nach, der Stoffwechsel wird träge … Auch hier haben sich diverse Heilkräuter sowohl in der westlichen als auch in der chinesischen Medizin bestens bewährt.
Li Wu: Wir beide freuen uns sehr, dass unser Buch nun bereits in der dritten Auflage erscheinen kann und wir noch mehr hilfreiche Teerezepturen unterbringen konnten. Nach den Rückmeldungen, die wir seit Erscheinen der ersten Auflage erhalten haben, kommen die Leser mit unseren Empfehlungen und der Zubereitung der Heiltees gut zurecht. Und Sie werden feststellen, dass schon das Ritual des Teemachens, das Hantieren mit dem Wasser und den Heilkräutern, etwas Heilsames an sich hat.
Buchtipp
Die Kräuterheilkunde der Traditionellen Chinesischen Medizin hat eine jahrtausendealte Tradition, auch das europäische Heilkräuterwissen kann auf eine lange und erfolgreiche Geschichte zurückschauen. Kombiniert man die beiden Heiltraditionen, entstehen wertvolle Synergieeffekte – die chinesischen und die europäischen Heilpflanzen ergänzen sich nicht nur, sondern können sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken.“ Prof. (TCM Univ. Yunnan) Li Wu und Apotheker Jürgen Klitzner haben gemeinsam jahrelang geforscht und präsentieren nun in ihrem Buch „Heiltees für Körper, Geist und Seele“ über dreihundert wertvolle Teerezepturen aus europäischen und chinesischen Kräutern sowie Mischungen beider Kräuterwelten.
Prof. TCM Univ. Yunnan Li Wu und Apotheker Jürgen Klitzner: Heiltees für Körper, Geist und Seele. Über 300 wirksame Rezepturen aus den traditionellen Heilkulturen Chinas und Europas. Mankau Verlag, 3. aktual. u. erw. Auflage 2020, 20,00 € (D), Klappenbroschur, 16 x 22 cm, 239 S., ISBN-978-3-86374-089-4. www.mankau-verlag.de