Man genießt die Natur auf keine andere Weise so schön als beim langsamen, zwecklosen Gehen“ wusste schon Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835). Und wer diese Fortbewegungsart von der flachen Ebene ins Gebirge verlegt, kann – so wage ich zu behaupten – den Genuss noch um einiges steigern. Die Alpenrepublik Österreich mit mehr als der Hälfte ihrer Fläche bestehend aus Gebirge, bietet sich hier als ideale „Genuss-Wander-Region“ an. Und wer nicht einfach nur Natur, sondern in ihrer Potenzierung ‘unberührte Wildnis’ spüren will, der findet Erlebnisse der besonderen Art in den österreichischen Nationalparks.
Das Unberührte entdecken
Sechs Regionen Österreichs tragen das Qualitätssiegel „Nationalpark“. Drei davon möchte ich heute näher vorstellen: Den oberösterreichischen Nationalpark Kalkalpen mit dem größten zusammenhängenden und unbesiedeltem Waldgebiet Österreichs. Den Nationalpark Gesäuse in der Steiermark, das jüngste Schutzgebiet mit den prägenden Elementen Wald, Wasser und Fels – ein Eldorado für Bergsteiger und Kletterer. Und schließlich den ersten und größten Nationalpark Österreichs, Hohe Tauern, an den Landesgrenzen zwischen Salzburg, Tirol und Kärnten, der für seine außerordentliche Vielfalt an Arten und Lebensgemeinschaften steht. Der Mensch soll so wenig wie möglich in den natürlichen Kreislauf der Natur eingreifen, denn nur so kann das ökologische Gleichgewicht bestehen und der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt werden. Wenn auch nicht überall urwüchsige Wildnis vorherrscht, so soll wenigstens so naturnah wie möglich die heimische Tier- und Pflanzenvielfalt geschützt und bewahrt werden. „Denn nichts berührt uns wie das Unberührte“ – so das Motto der Dachmarke „Nationalparks Austria“, unter der die sechs Nationalparks in Österreich zusammengeschlossen sind.
Wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen
Um als Nationalpark anerkannt zu sein müssen zahlreiche Kriterien erfüllt werden, deren Einhaltung regelmäßig von der Weltnaturschutzunion IUCN überprüft werden. Es dürfen zum Beispiel mindestens 75 Prozent der Fläche nicht wirtschaftlich genutzt werden. Die Natur soll weitgehend unberührt bleiben und sich ungestört entfalten können. Bäume werden nicht gefällt, sondern dürfen in Würde altern. Durch Lawinenabgänge, Blitzschlag oder schlicht durch den natürlichen Alterungsprozess umgestürzte Stämme haben hier das Recht als Totholz in Ruhe zu vermodern. Überall liegen umgeknickte Bäume, gleichsam wie von Riesenhand verstreute Mikadostäbe, an den steilen Hängen. Was für viele eine Verschwendung von Kapital darstellt, erkennen die Naturschützer als wichtigen Lebensraum für zahlreiche Arten. Bis zu 30 Prozent der circa 7.300 Käferarten in Österreich leben im und am Holz verschiedener Zerfallsstadien. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll die immense Bedeutung der Waldwildnis für unser Ökosystem.
Ich sehe was, was Du nicht siehst
Überhaupt gehen die Mitarbeiter, oder auch Ranger genannt, hier mit ganz anderen Augen durch die Welt. Aus einer Pfütze wird ein Bergmolch gefischt. Eine kleine Raupe wird vor den nachfolgenden Wanderern vorsichtshalber in Sicherheit gebracht. Der Schneiderbock, ein kleiner circa zwei Zentimeter großer Käfer, wird aus einer Wiese gepflückt und nach eingehender Begutachtung behutsam wieder in die Freiheit entlassen. Selbst wenn man von sich denkt, man würde mit offenen Augen durch die Landschaft wandern, verwundert es einen immer wieder was einem ohne professionelle Begleitung verborgen bliebe. Selbst die großen Bartgeier, die immerhin eine Flügelspanne von bis zu 2,85 Meter erreichen können und hoch oben am Himmel über die Gipfel gleiten, entdecke ich erst auf den zweiten oder gar erst dritten Blick. Doch Dank der geschulten Mitarbeiter – ich möchte sie fast ehrfurchtsvoll Natur-Sommeliers nennen – bleibt meinen Sinnen kaum mehr etwas verborgen.
Das Murmeltier lässt grüßen
Der Ranger hat Witterung aufgenommen und den „vanilleähnlichen Geruch“ der zierlichen Federnelke erschnuppert. Und dort entfaltet sie auch schon ihre prachtvolle leuchtende Schönheit. Sie ist typisch für das Gesäuse und zählt zu den sogenannten Endemiten, also eine Art, die nur in diesem Verbreitungsgebiet zu finden ist. Eine willkommene Farbexplosion im Grau in Grau der unendlichen Gesteinsbrocken hier im Gesäuse. „Auch der Gamsbock war hier. Ich kann ihn riechen!“ Und tatsächlich nehme auch ich nach mehreren tiefen Atemzügen den scharfen Geruch dieses typischen Alpenbewohners wahr. Zeigen will er sich uns nicht, ebenso wenig wie der Flussuferläufer oder das Murmeltier. Von ihm hören wir nur die kurz nacheinander ausgestoßenen Warnlaute – das Signal für Gefahr am Boden. Mit langen Tönen warnen sie sich gegenseitig vor Räubern aus der Luft. Für den Experten (und jetzt auch für mich) ein Hinweis, dass Geier oder andere Raubvögel über unseren Köpfen kreisen. Eine Garantie lebende Wildtiere hier zu entdecken gibt es nicht. Schließlich befinden wir uns hier in einem Nationalpark und nicht in einem Tierpark. Auch der Flussuferläufer hielt sich an diesem Tag bedeckt. Allerdings erscheint mir die Wahrscheinlichkeit auch nicht sehr groß, eines der insgesamt nur 3 Brutpaare zu entdecken. Irgendwie muss ich an die Stecknadel im Heuhaufen denken und bewundere insgeheim die Leidenschaft mit der ausnahmslos alle Mitarbeiter der Nationalparks ihrer Eigenschaft als Schützer und Bewahrer der Tier- und Pflanzenwelt nachkommen.
Der König der Lüfte
Ein faszinierendes Schauspiel bot sich auch bei der Bartgeier Freilassung im Nationalpark Hohe Tauern. Nach der ersten Freilassung 1986 konnte man heuer im Juni im Krumltal „30 Jahre Wiedereinbürgerung der Bartgeier in den Alpen“ feiern. Nachdem der König der Lüfte im 19. Jahrhundert in den Alpen ausgerottet wurde, leben mittlerweile dank der jahrelangen erfolgreichen Wiederansiedlung rund 250 dieser beeindruckenden Vögel im Alpenraum. Zahlreiche Sagen und Legenden ranken sich um ihn. Da er sich überwiegend von Knochen ernährt, wurde dem friedlichen Aasfresser zu Unrecht nicht nur das Töten von Gämsen und Lämmern sondern auch von Kindern nachgesagt. Jetzt verbringen etwa 30 bis 100 Geier jedes Jahr den Sommer in den HohenTauern und haben sich zu einem wichtigen „Imageträger“ des Nationalparks entwickelt. „Wo viel Futter zur Verfügung steht, sind binnen weniger Stunden viele Geier da. Daraus sieht man die Bedeutung der Almwirtschaft für die Geier in den Hohen Tauern. Werden verunfallte Weidetiere auf den Almen belassen und nicht entsorgt, dienen sie den Geiern als attraktives Nahrungsangebot.“
Bartgeier Freilassung
Zahlreiche Zuschauer, Vertreter von Fernsehen, Rundfunk und Politik machten sich am 24. Juni 2016 bei strahlendem Sonnenschein auf den Weg ins Krumltal, dem sogenannten „Tal der Geier“, um hautnah bei der Freilassung der beiden Bartgeier Lucky und Charly dabei zu sein. Die beiden erst drei Monate alten Jungvögel stammen aus dem Tierpark Friedrichsfelde Berlin und waren erst am Tag zuvor im Nationalparkzentrum in Mittersill angekommen. Die freudige Anspannung in der „Geier-Community“ war deutlich zu spüren. Die Jungvögel wurden beringt, mit einem Sender ausgestattet und Ihre Flügel wurden markiert. Nach einer Art Strichcode werden dabei einzelne Federn an der Unterseite der Flügel gebleicht. So können die Tiere auch in großer Höhe sofort zugeordnet werden. In großen Kisten sicher verstaut kamen die beiden Geier schließlich an der Freilassungsstelle an. Als letzte Hürde musste der Untersulzbach in einem waghalsigen Manöver von den beiden sichtlich stolzen Geierträgern überquert werden. Unter den Augen des Publikums ging es dann noch den steilen Hang hinauf zum Horst. Hier haben die Vögel Zeit sich die nächsten vier Wochen an die Wildnis zu gewöhnen, bevor sie flügge werden. Ihre beiden ‘Betreuer’ haben sich in einer gegenüberliegenden Hütte einquartiert und werden Lucky und Charly bis dahin mit Futter versorgen. Auch hier ist wieder die Begeisterung und Leidenschaft zu spüren, mit der die Beteiligten dieses Projekt in die Tat umsetzen.
Fazit
Die Nationalparks in Österreich haben alles zu bieten, was das Klischee eines Alpenurlaubs hergibt: Rauschende Bäche, saftige Wiesen, steile Hänge, tiefe Täler, glückliche Kühe, urige Almhütten. Und darüber hinaus die Erkenntnis, dass es sich lohnt, sich für unsere Umwelt einzusetzen um ihre Ursprünglichkeit zu bewahren.
Zu guter Letzt muss ich aber noch ein Zitat von Extrembergsteiger Hans Kammerlander loswerden:
Jeder Gipfel ist in Wirklichkeit nur ein Umweg zur nächsten Kneipe.
Und denke dabei an das ‘Bradl’ auf der Almhütte…
Info
Nationalpark Kalkalpen: Er liegt zwischen dem Ennstal, dem Steyrtal und den Haller Mauern. Der Nationalpark Gesäuse ist nur 8,5 km entfernt. Highlight und Besonderheit sind seine 32 unterschiedlichen Waldtypen. Luchs, Weißrückenspecht und Alpenbockkäfer finden hier ideale Lebensräume. 20,8 Hektar groß, davon 81 % Wald. Höchste Erhebung: Hoher Nock mit 1.963 Meter. www.kalkalpen.at
Nationalpark Gesäuse: Drittgrößter Nationalpark Österreichs mit 11,3 Hektar. 52 % Wald, 24% Fels. Seinen Namen hat er vom tobenden Rauschen der Enns. Höchste Erhebung: Hochtor mit 2.370 Meter. Eiine Schatzkiste mit besonders seltenen, nur regional vorkommenden Arten wie die Zierliche Federnelke oder der Flussuferläufer. www.nationalpark.co.at
Nationalpark Hohe Tauern: Größter Nationalpark im gesamten Alpenraum. 1.856 km2. Höchste Erhebung: Großglockner mit 3.798 m. 551 Bergseen, 26 bedeutende Wasserfälle. Ein spezielles Erlebnis sind die Gletscherwanderungen oder die Bartgeier-Sichtungen im Rauriser Krumltal. Bei der geführten „Tal der Geier“ – Tour besteht außerdem die Möglichkeit, Gänsegeier, Mönchsgeier, Steinadler und andere Wildtiere zu erspähen. www.hohetauern.at
Text: Sylvia Schmidt. Die Recherchereise erfolgte auf Einladung der Nationalparks Austria.